Der Galerist

An einem Herbsttag im September saß ich lange unter den hohen und noch grünen Kastanienbäumen, die einen verlassenen, mit Büschen umwachsenen Kinderspielplatz umgaben. Bei einem Spaziergang war ich unversehens in eine mir unbekannte Gegend an den Stadtrand gelangt und hatte diesen friedlichen Ort gefunden, der mich nun zu einer Ruhepause einlud.

Auf einer der schlichten alten Holzbänke saß ich und genoß die Ruhe und die helle Sonne, die den kleinen Platz erwärmte. Niemand war da, bis sich, wohl nach der Mittagsstunde, der Platz langsam belebte, Mütter, deren Kinder gleich auf einer Sandfläche zu spielen begannen, ältere Leute, dieses und jenes Paar besetzten die Bänke und verbrachten den Nachmittag meist schweigend. Ganz eingetaucht in diese Welt halblauter lebendiger Geräusche geriet ich mehr und mehr in jenen halbwachen, körperschweren Zustand, der dem Schlaf vorausgeht. In meine angenehme Müdigkeit mengte sich das Gefühl, Teil dieses Ortes zu sein, gleich den anderen Leuten ringsum, gleich den Kindern, Bäumen und Büschen in diesem Nachmittagslicht. Meine Anwesenheit erschien mir so gleichgültig, wie es meine Abwesenheit nur hätte sein können. War dies der Grund dafür, daß ich diesen Ort, meinen Aufenthalt ebenda, als schön empfinden konnte?

Jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, glaube ich, daß ich mich damals ganz unbefangen und ohne Zutun einer Stimmung überließ, die ich hier nur noch annähernd beschreiben kann oder will - jetzt, während die ganz wenig geöffneten, gelblich leuchtenden Augen meiner schwarzen Katze auf mich gerichtet sind, die zusammengerollt in ihrem Korb liegt und die Nacht erwartet.

Nach einigen Stunden leerte sich der Platz allmählich und auch ich machte mich auf den Rückweg. Bald kam ich zu einer breiten, nicht mehr befahrenen Ausfallstrasse, die nach einer Biegung aufs flache Land hinausführte. In der untergehenden Sonne ergingen sich noch einzelne Spaziergänger, ein leichter Wind, der schon an der Herbst denken ließ, kam auf und die Luft wurde kühler. Wieder lockte eine Bank am Rande des breiten Gehwegs zum Verweilen und ich setzte mich. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite reihten sich verrottete kleine Häuser aneinander, unbewohnt vielleicht, deren Abschluß eine wohl vom großen Krieg übriggebliebene rötlichbraune Ruine bildete. Durch die leeren Fensteröffnungen ihrer hochragenden halb zerstörten Brandmauer war der graue Himmel zu sehen. Zwei drei Spaziergänger setzten sich hinzu, eine Mutter mit ihrem Kleinkind und ein alter Mann; schweigend betrachteten wir die Strasse, die dahingehenden Leute.

Auch ein untersetzter beleibter Mann, die Hände in den Taschen seines hellen Regenmantels, kam einher, sein Schritt schien im Vergleich mit den anderen, eher gemächlich sich bewegenden Fußgängern, etwas beschleunigt. Als er näher kam, sah ich, dass eine Art Plakette an das breite Revers seines Mantels geheftet war, so wie dies Firmenangestellte tun, oder dies auch bei Teilnehmern sogenannter „Podiumsdiskussionen" üblich war; damit waren die Leute namentlich und ihrem Rang nach zu erkennen, als Person gekennzeichnet. Ich bin mir nicht sicher, glaube aber, auf dem Schildchen das Wort „Galerie" oder „Galeere" gelesen zu haben. War dieser Mensch tagsüber auf der Galerie eines Theaters beschäftigt? Als Beleuchter, als Bühnentechniker?

Im Moment seines Vorübergehens blickte er wie zufällig, ganz in sich verschlossen, doch mit scharfem Blick, zu unserer Bank herüber, der einzigen weit und breit. Kurz vor der Strassenkrümmung wandte er sich überraschend nach rechts, hin zu dem leeren unkrautbewachsenen Feld, einer öden Brache, die sich bis an den Horizont erstreckte. Eine kleine Weile verharrte er, ein Schritt noch, dann würde er das unwegsame Ackerfeld betreten. Indem er nun eine halbe Drehung nach rückwärts gewandt vollzog, zeigte sich von einem Moment zum anderen eine erschreckende Verwandlung seines Äußeren: Hier stand eine Gestalt, die kaum mehr an eine menschliche erinnerte, sondern die befremdlichen Merkmale einer Tiergestalt, eines Mischwesens zeigte: Auf dünnen, knotigen, kurzen Beinen blähte sich ein mit dunklen Beulen bedeckter, unförmiger Korpus, der notdürftig mit Fetzen löchrigen Sackleinens behangen war. Seine Schultern zierte eine Art Pellerine oder Cape aus zerschlissenem, ehemals vielleicht dunkelrotem Stoff, der fern an die Tracht zwergwüchsiger Hofnarren aus der Zeit der Renaissance denken ließ. Halslos saß ein großer kahler und ohrloser Kopf keilförmig inmitten der Schultern. Die aufgerissenen Augen zeigten den Ausdruck schierer Angst, beherrschten ein aufgeschwemmtes kinnloses Gesicht, einer missgebildeten Maske ähnlich. Der Mund war breit und strichförmig gepresst, die Nase schartenförmig rückgebildet.

Krähen flogen auf, flatterten krächzend davon. Die Ungestalt bewegte sich mit hüpfenden, weit ausholenden, staksigen Schritten in das Feld hinein, scheinbar gewichtslos, der Gangart nach eben jenen Krähenvögeln ähnlich, die sich, am Boden hüpfend, von einer Stelle zur anderen bewegen konnten. Stumm erstarrt sahen wir von unserer Bank auf diese Szenerie, dieses Schauspiel, das einfach im stetig kleiner werdenden und gänzlichem Verschwinden dieses Wesens, in dem nun mit flachen Nebelschwaden verunklärten Feld, endete. Wie ein fahlgrauer Nachklang des Geschehens setzte die Dämmerung ein, die wenigen noch anwesenden Passanten verloren sich nach und nach darin. Der Inkarnation entgegengesetzt war uns hier gerade eine Exkarnation, eine „Entfleischlichung" vor Augen (etwa nur den meinen?) gewesen, die gleichwohl fleischlich erschien, die Verwandlung einer wirklichen Person in eine gespenstische, doch nicht weniger wirklich erscheinende Chimäre? Wenn Wirklichkeit „tatsächlich seiend" bedeutet, so schien dieses Schauspiel so wahr wie wirklich zugleich, denn, wenn die Augen nicht getrogen hatten, waren wir Zeugen eines höchst realistischen Geschehens gewesen, dessen Natur wohl verborgen bleiben muss, nichtsdestoweniger gerade dem Kundigen übersinnlicher Ereignisse nicht abwegig erscheinen wird. Nach altem Glauben verwandelten sich Menschen, wenn sie des Lebens überdrüssig waren, zuweilen in Tiere, in Werwölfe oder Berserker.

„Transfiguration" wäre eine mögliche Bezeichnung des Vorgangs, wenn sie der christlichen Ausdrucksweise nicht so nahe stünde, dass sie sich hier von selbst verbieten muss. Der Begriff Transformation trifft den Sachverhalt eher. „Wahrheit" ist, wie Charles Lumbsden schreibt, „ein weit verbreiteter mythischer Massstab bei Wissenschaftlern. Werke wie der Koloss von Rhodos oder Guernica sind nicht wirklich Aussagen, und Aufmerksamkeit auf ihre mögliche wissenschaftliche Wahrheit oder Falschheit führen nirgendwo hin. Ihre Maßstäbe liegen an den Grenzen der Ästhetik und Moralphilosophie." Andererseits wurde die Figur des „Widergängers" 1897 von Bram Stoker schon hinreichend beschrieben. Einen Verweis in diese Richtung gab mir einige Jahre später eine Begebenheit, die ich hier anfügen will.
Mit einem Freund besuchte ich eines jener Trinklokale der Stadt, die weit über Mitternacht geöffnet haben. Das zu dieser späten Stunde gut besuchte Lokal war erfüllt mit den angetrunkenen Stimmen übermütiger Gäste, wohinein sich grell die lauten Musikgeräusche der Beschallungsanlage mischten. Wir fanden zwei freie Plätze. Nach einer Weile fiel mir in einigen Metern Entfernung ein Tisch mit drei Personen auf, die in eine ernst anmutende Unterhaltung vertieft waren. Zwei junge Leute, ein Paar wohl, saßen einem älteren, massigen und gut genährten Mann, der in einen dunkelgrünen Trenchcoat gehüllt war, gegenüber. Von den übrigen Gästen etwas separiert, durch ein hölzernes Podest, das durch seine Einfassung entfernt an eine Galerie erinnerte, erhöht, war ihr Profil trotz der verrauchten Luft im Licht einer darüberhängenden Lampe gut zu erkennen. Die Jugend des Paares stach augenfällig von der schwerfälligen Altersgewichtigkeit des Mannes ab, der sein Gesicht halb mit der Hand seines auf den Tisch aufgestützten Armes bedeckt hielt. Dieser Mensch, war er nicht die Person, deren Verwandlung ich vor Jahren miterlebt hatte und der nun wiederum in anderer, doch ähnlicher Gestalt an diesem Tisch sass? Sein keilförmiger Kopf, die schwer nach unten ziehenden Wangenpartien liessen kaum einen Zweifel zu. Indem mein Blick an diesem Tisch länger verweilte, sah ich, zuerst undeutlich, dann klarer, dass die beiden jungen Leute schmale Halsbänder trugen, von denen dünne leinenartige Schnüre an eine Hüftseite des gegenübersitzenden Mannes führten, wo sie befestigt sein mussten. War er der Onkel des Paares? Ohne eine direkte Erklärung zu haben, spürte ich eine Atmosphäre der Beklemmung von diesem Tisch ausgehen. Uns erreichte ein mißtrauisch scharfer Blick durch die geöffneten Finger seiner Hand hindurch, spähend.

Nach einiger Zeit verließen die drei Personen gemeinsam das Lokal. Auf dem Tisch standen noch lange die leeren Gläser und ein übervoller Aschenbecher. Auch wir verließen dieses Lokal, dessen Sperrstunde gekommen war.

H. K.