Süddeutsche Zeitung SZ 17/4/2002

Langes Ringen um würdige Form des Erinnerns.
Die Textsäule in der Antonienstraße zeigt auf einem Foto zwei ehemalige Bewohnerinnen am Fenster

In Anwesenheit zahlreicher Ehrengäste und mehrerer überlebender Zeitzeugen ist gestern in der Schwabinger Antonienstraße eine Gedenkstele zur Erinnerung an das frühere jüdische Kinderheim enthüllt worden. Bei der Feierstunde im Gymnastiksaal des Beruflichen Schulzentrums an der Antonienstraße 6 erinnerten sich Überlebende an ihre Jahre im Antonienheim und an die Deportationen, denen in den meisten Fällen die Ermordung der jüdischen Kinder folgte. Während Bürgermeisterin Gertraud Burkert dabei die Bereitschaft der Stadt betonte, „sich offen und offensiv mit Münchens NS-Geschichte auseinander zu setzen", beklagte Ellen Presser von der Israelitischen Kultusgemeinde die Abwesenheit jüdischer Spuren in München.
Die von Hermann Kleinknecht entworfene Textsäule zeigt auf einem eingelassenen Foto zwei ehemalige Heimbewohnerinnen, die aus dem Fenster ihres Zimmers auf die Straße schauen. Der Standort auf dem Gehweg vor der Antonienstraße 7, wo heute ein Wohnhaus steht, lenkt den Blick des Betrachters zu den Fenstern des jetzt am ehemaligen HeimStandort befindlichen Gebäudes, zeichnet also den Blick von der Straße aufs Heim nach. Der Text der Stele lautet: „Zur Erinnerung an das jüdische Kinderheim Antonienstraße 7 (1926 bis 1942). In den Jahren 1941 und 1942 wurden Kinder und Jugendliche sowie deren Betreuerinnen deportiert und ermordet." Ernst Grube, mit Bruder Werner Initiator der Tafel, dachte in der Feierstunde an eine Zeit der Geborgenheit, an Schlittenfahrten und Wanderungen im Englischen Garten zurück, sowie an seine Liebesbriefe an Freundin Anita, deren Nachnamen er nicht mehr weiß. Der Zeitzeuge schilderte aber auch Verspottungen, das erzwungene Annähen der gelben Judensterne und den Tag im November 1941, als die ersten 23 Kinder zur Erschießung deportiert wurden, darunter Anita. „Da habe ich sehr geweint."
Zum 60. Mal jährt sich in diesen Tagen die Zwangsliquidierung des Antonienheims, das 1926 vom Verein Israelitische Jugendhilfe eröffnet und im März 1942 dem nationalsozialistischen Verein „Lebensborn" übereignet wurde. Dennoch erinnere außer einer Ausstellung, die kürzlich in den Räumen der Volkshochschule München-Nord gezeigt worden ist, bislang nichts an die Geschichte dieser Einrichtung und an die Schicksale der damaligen Heimkinder, „von denen etwa 120 der Shoah zum Opfer gefallen seien". Bürgermeisterin Gertraud Bunkert versteht die Gedenkstele deshalb als einen Beitrag, „diese Erinnerungslücke zu schließen".
Der Weg zur Gedenktafel war steinig: So weigerten sich die Grundeigentümer, an ihrem Haus eine Tafel anbringen zu lassen. Mehrere Entwürfe wurden erarbeitet und wieder verworfen. Die Brüder Grube mussten wiederholt Vorstöße unternehmen, bis sie im Schulterschluss mit den Mitgliedern des Bezirksausschusses 12 (Schwabing/Freimann) die Stele durchgesetzt hatten. „Das Ringen um eine würdige Form des Erinnerns" hat
selbst nach Ansicht der Bürgermeisterin „länger gedauert, als uns allen lieb sein konnte". Doch folgt ein zweiter GedenkBaustein: Das gegenüber dem ehemaligen Heim befindliche Schulzentrum soll nach der früheren Heimleiterin Alice Bendix benannt werden. Die Grube-Brüder wollen sich außerdem weiter dafür einsetzen, dass die Antonienstraße in Antonienheimstraße umbenannt wird. Selbst Bezirksausschussmitglied Janne Weinzierl, die seit 30 Jahren unweit der Antonienstraße lebt, stieß erst kürzlich auf die Geschichte des Antonienheims. Für sie war die Veranstaltung deshalb „ein schmerzlicher und freudiger Anlass" zugleich - schmerzlich, weil es 60 Jahre gedauert habe, bis in dieser Form an das Heim erinnert werden konnte.
Im Hinblick auf ihre jüdische Geschichte sichtbare Zeichen zu setzen, sei „ein Problem der Stadt München". Ellen Prasser verwies auf Städte wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt, wo ehemalige jüdische Gebäude oder Inschriften eine Spurensuche ermöglichten. „In München ist das unmöglich." Dort gebe es vor allem Leerstellen: Die Hauptsynagoge sei auf persönliches Betreiben Hitlers abgerissen worden, das israelitische Krankenhaus verschwunden. Kinder hätten in der NS-Zeit geringere Überlebenschancen als Erwachsene gehabt, fasste Pressar zusammen. „Kinder verkörpern Zukunft", betonte sie, die habe der NSStaat denen, die nicht in sein Weltbild passten, verweigert.
Zur Feierstunde waren neben den Brüdern Grube und ihrer bei der Einliefe-. rang ins Heim sechs Monate alten Schwester Ruth Kauar auch die ehemaligen Bewohner Henny Seidemann, Helmut Lisberger und - aus den USA - Alfred Koppel gekommen. Koppel hat 1941 seine drei Brüder verloren. Ohne das unermüdlicheWirken der Zeitzeugen würde die Stele nicht stehen, resümierte Ernst Grube-und sorgte sich um künftige Zeitzeugenarbeit. „Was ist, wenn wir in einigen Jahren nicht mehr sind?"

Thomas Kronewiter SZ 17/4/2002